Barrierefreiheit – der Spagat zwischen Gesetz und Wirklichkeit
Haltestellen des öffentlichen Verkehrs unterliegen dem Behindertengleichstellungsgesetz. Danach müssen neue Fahrzeuge und neue Haltestellen auf die Bedürfnisse von mobilitätseingeschränkten Reisenden abgestimmt sein. Bereits bestehende Bauten, Anlagen und Fahrzeuge, die nicht innerhalb einer ohnehin fälligen Erneuerung angepasst werden können werden können, müssen bis spätestens Ende 2023 den gesetzlichen Anforderungen entsprechen.
Davon sollen nicht nur die mobilitätseingeschränkten Fahrgäste profitieren, sondern auch alle anderen Reisenden, welche beispielsweise mit schwerem Gepäck oder Kinderwagen unterwegs sind.
Strasse und Schiene
Auf den ersten Blick scheint dies eine ebenso klare wie einfach zu erreichende Zielsetzung zu sein. Doch der Teufel steckt wie so oft im Detail! Beim schienengebundenen Personenverkehr ist die Schnittstelle zwischen Infrastruktur und Fahrzeug dank technischen Errungenschaften wie beispielsweise dem Schiebetritt weitgehend geklärt. Beim strassengebundenen ÖV fehlt noch eine praxisgerechte Lösung. Hier ist die Ausgangslage ungemein schwieriger, da Busse nun mal nicht auf Schienen fahren und damit der Abstand zur Haltekante variabel ist. Sogar unsere Profis am Lenkrad werden kaum in der Lage sein, eine Haltekante jedes Mal gleich anzufahren.
Die Kantone und auch einige Gemeinden im Einzugsgebiet des RBS und BSU klären zurzeit ab, wie den Anforderungen des Behindertengesetzes Rechnung getragen werden kann. Planungshilfen gibt es zuhauf, aber selbst Fachleute diskutieren kontrovers, welche technischen Lösungen die gesetzlichen Vorgaben am ehesten erfüllen können. Konkret heisst das: Wie müssen Bushaltekanten ausgestaltet sein und welche Anforderungen müssen Fahrzeuge erfüllen, um die geforderten Spaltmasse (siehe Text unten oder auf admin.ch) einzuhalten?
Die Haltestelle der Zukunft
Auf dem Netz der Bieler Verkehrsbetriebe und des BSU sind in den letzten Jahren verschiedene Typen von Haltekanten erstellt worden. Eine ideale Ausgangslage also, um daraus unsere Schlüsse für das RBS-/BSU-Netz und künftige Fahrzeugausschreibungen zu ziehen! Eine bunte Schar mit Vertretern aus Betrieb, Werkstatt, Tiefbauämtern und Planungsbüros fanden sich deshalb in Biel und Solothurn für einen Fahrversuch ein. Ziel war es, eine Empfehlung für die Haltestelle der Zukunft abzuleiten.
Keine allgemein gültige Lösung
Um es vorwegzunehmen: Eine allgemein gültige Lösung gibt es leider nicht. Die örtlichen Gegebenheiten und die eingesetzten Fahrzeugtypen müssen ebenfalls in die Überlegungen einbezogen werden, wenn es darum geht, eine Haltestelle behindertentauglich aufzuwerten. Es wurden verschiedene Typen von Haltekanten untersucht, doch jede hat sowohl ihre Vor-, wie auch Nachteile. Kanten über 22 cm sind zwar aus Optik der Behindertentauglichkeit empfehlenswert, scheitern aber aus betrieblichen Gründen. Die Praxis zeigt, dass an solchen Kanten das Fahrpersonal – unabhängig vom Transportunternehmen – tendenziell einen «Respektsabstand» einhält, um Fahrzeugschäden zu vermeiden. So werden die geforderten Spaltmasse in der Praxis bei weitem nicht eingehalten.
Aus betrieblicher Sicht weisen nur drei Kanten das Prädikat «empfehlenswert» auf, wobei aber jede dieser drei Varianten wiederum ihre Mängel aufweist:
Die erste Variante ist zwar aus betrieblicher Sicht uneingeschränkt empfehlenswert, die geforderten Spaltmasse können jedoch sogar bei einer Langsamfahrt unter Testbedingungen nicht erreicht werden, sie ist also nicht vollkommen behindertengerecht. Die zweite Variante kann nur unter der Voraussetzung empfohlen werden, dass absolut gerade zu- und weggefahren werden kann. Diese Einschränkung gilt insbesondere für Gelenkbusse, da bei solchen Bussen als erstes der Gelenkbalg beim Auslenken an der Haltekante streift. Einen Kompromiss zwischen Variante a) und b) stellt die dritte Variante dar, da die Haltekante minime Verschwenkungen bei der Zu- und Wegfahrt verzeiht. Doch auch diese Lösung wäre gemäss den Vorgaben nicht komplett behindertengerecht.
Ernüchterndes Fazit
Es ist somit nur der zweite Haltekantentyp, der die gesetzlich vorgegebenen Masse erfüllt, welcher aber im Praxisbetrieb erhebliche Mängel aufweist und daher nur in Ausnahmefällen realisiert werden kann. Diese Erkenntnis erstaunt sehr und offenbart die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Das Fazit der Verkehrsversuche fällt daher ernüchternd aus. Sämtliche Haltestellen barrierefrei zu gestalten, wie der Gesetzgeber dies vorschreibt, wird nicht möglich sein. Diese Zielvorgabe wird einerseits an den Kosten scheitern, aber auch an den betrieblichen und baulichen Rahmenbedingungen.
Fahrerassistenzsysteme, welche den Bus zentimetergenau an die Haltestelle manövrieren, könnten diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verkleinern. Bis solche Systeme jedoch marktreif sind, werden wohl noch etliche Jahre vergehen. Bis dahin ist nach wie vor unser Fahrpersonal in der Pflicht, welches im Spannungsfeld zwischen wachsendem Fahrplandruck und stetig steigendem Verkehrsaufkommen bereits heute sehr stark gefordert ist.